Die Magie des Unbekannten, Aus: Die sieben Dinge meines Lebens.
Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube auch nicht daran, dass die Welt aus etwas anderem besteht, als aus Materie. Aber ich glaube an die Magie der Dinge. Ich bin überzeugt davon, dass der Espresso, den ich trinke, eine Seele hat. Ich schmecke die Sonne, die darin steckt und den Wind, die ölige Luft eines Containerschiffes und manchmal sogar den Urin der Hunde, die sich auf den Kaffeeplantagen herumgetrieben haben.
Wenn ich eine Goldbrasse kaufe, einen Steinbeißer oder einen Schwertfisch, möchte ich wissen, wo er her kommt. Ich möchte erfahren, welchen Ozean er durchquert hat und ob er jemals das grünliche Licht der Tiefe gesehen hat. Natürlich erfahre ich es meistens nicht und ich bin auch nicht verrückt genug, die siebzehnjährige Verkäuferin danach zu fragen. Aber ich versuche in den Augen zu lesen, bemühe mich die Schuppen zu deuten und betrachte das Blut in den Kiemen.
Wenn ich auf eine unbekannte Pflanze stoße, rieche ich daran. Es drängt mich ihren Geruch in mir aufzunehmen, damit ich mich daran erinnern kann, wenn sie verschwunden ist. Ich bereue jedes Mal, dass mein Bestimmungsbuch zu schwer ist für einen Spaziergang. Stattdessen nehme ich Blätter und Blüten mit nach Hause, um zu erfahren ob es sich um Zaunwinde, Schwarzdorn, Zitronenquitten, Fenchel oder wilden Möhren handelt. Meistens esse ich sogar ein winziges Stück davon, um zu prüfen, ob sie genießbar ist. Meine Liebste hält mich für verrückt in diesen Belangen. Aber alles was geschaffen wurde, besitzt eine Geschichte, die man nur erfahren kann, wenn man es in sich aufnimmt. Außerdem gibt es nur sehr wenige wirklich giftige Pflanzen.
Vielleicht hängt es damit zusammen wie ich aufgewachsen bin. Als ich ein Kind war, waren wir nach heutigen Maßstäben arm. Meine Eltern hatte eine Schäferei und mein Vater arbeitete als Hilfsarbeiter. Später hat sich vieles geändert. Mein Vater brachte es bis zum Techniker und wir rückten in die Mittelklasse auf. Aber in diesen frühen Jahren war ich sehr viel allein. Meine Eltern und meine Brüder arbeiteten am Haus oder auf dem Hof und ich war immer zu jung und zu schwach, um von irgendeinem Nutzen zu sein. Ich weiß nicht genau, ob es an der Einsamkeit lag. Aber ich begann die Welt um mich herum zu betrachten als wäre ich ein Fremder darin.
Einmal fand ich bei meinen Streifzügen durch unter Haus eine Schachtel mit alten Photos. Sie zeigten meinen Großvater. Er war Fernfahrer und saß auf seinem Lastwagen. Das kleine Mädchen neben ihm war meine Mutter. Sie trug eine lächerlich große Schleife und wirkte noch ärmlicher und verzweifelter als in meinen Kindertagen. Die Aufnahmen waren während des Krieges entstanden. Weshalb mich diese Bilder so beeindruckten, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie führten mir etwas vor Augen, was für einen Erwachsenen so selbstverständlich ist, dass man es kaum ausdrücken kann. Ich verstand plötzlich, dass es vor mir auch schon Menschen gegeben hatte. Das fand ich damals keineswegs selbstverständlich. Jedenfalls hatte ich vorher darüber noch niemals nachgedacht.
In dieser Zeit begann ich meine ersten Gedanken zu entwickeln. Manche von davon verfolgen mich noch heute. Oft saß ich stundenlang an einem Fleck und dachte nach. Ich versuchte alles was ich beobachtete mit meinem Verstand zu begreifen. Meine Mutter versuchte mich immer dazu zu bewegen, dass Haus zu verlassen. Sie hielt Sonne und Luft für die wichtigsten Voraussetzungen für eine gute Erziehung. Aber es gelang ihr selten. Noch heute sitze ich am liebsten bei strahlendem Sonnenschein an meinem Schreibtisch und arbeite.
Der erste Gedanke, an den ich mich erinnern kann, war eine Frage. Ich frage mich, warum ich gerade in diesen Körper und in dieses Leben hinein geboren worden war. Ich fürchtete mich davor zu erwachen und fest zu stellen, dass ich als (wirklich) armes Kind in einem anderen Land oder ein anderen Zeit lebte. So wie meine Mutter, die mit einer lächerlichen Schleife den ganzen Krieg überstehen musste. Diese Angst in Wirklichkeit ein Anderer zu sein, verfolgte mich über viele Jahre hinweg.
Deshalb habe ich mir die Dinge, die mich umgaben sehr genau eingeprägt, so als wären sie neu und vollkommen unbekannt. Sollte ich in einer anderen, schrecklichen Welt erwachen, würde ich mich wenigstens daran erinnern können. Natürlich stellte ich dabei fest, dass ich die meisten Dinge tatsächlich kaum kannte. Bisher hatte ich nur ihre Oberfläche wahrgenommen. Aber mir waren die Dellen, die Kratzer und die Flecken entgangen. Ich hatte die Lebensspuren übersehen. Allmählich begriff ich, dass jedes Ding eine Vergangenheit hatte, wie ein Mensch oder eine Familie. Eine Geschichte. Ich verbrachte Stunden damit die belanglosesten Sachen anzustarren. Die handbetriebene Kaffeemühle (alle anderen im Dorf hatten eine Elektrische); die Schafställe, Schermaschinen, Traktoren, Zäune und Schlachtvorrichtungen; das Porzellan mit chinesischen Motiven, den Duschvorhand, die Handwaschpaste und das ewig blitzsaubere Fahrrad meines Bruder. Kurz darauf brachte meine Mutter mich zu einem Psychologen.
Seit dieser Zeit bin ich fasziniert von dem Gedanken, dass man mit jedem Gegenstand eine Geschichte erzählen kann, die sich über viele hundert Jahre erstreckt. Ich könnte von seiner Erfindung berichten oder von seiner Herstellung oder ich könnte davon erzählen, wie die Vorbesitzer zu ihm kamen und was sie veranlasste ihn aus der Hand zu geben. Aber ich könnte auch erklären welche Bedeutung er in meinem Leben hat. Das allein würde genügen, um einen Roman zu füllen. Deshalb will ich versuchen mich kürzer zu fassen, denn in den nächsten Abschnitten möchte ich jeweils eines der sieben Dinge meines Lebens vorstellen und ich habe nicht vor einen Roman daraus zu machen.
Teil 1: Die Entdeckung des Achaar
Wenn ich eine Goldbrasse kaufe, einen Steinbeißer oder einen Schwertfisch, möchte ich wissen, wo er her kommt. Ich möchte erfahren, welchen Ozean er durchquert hat und ob er jemals das grünliche Licht der Tiefe gesehen hat. Natürlich erfahre ich es meistens nicht und ich bin auch nicht verrückt genug, die siebzehnjährige Verkäuferin danach zu fragen. Aber ich versuche in den Augen zu lesen, bemühe mich die Schuppen zu deuten und betrachte das Blut in den Kiemen.
Wenn ich auf eine unbekannte Pflanze stoße, rieche ich daran. Es drängt mich ihren Geruch in mir aufzunehmen, damit ich mich daran erinnern kann, wenn sie verschwunden ist. Ich bereue jedes Mal, dass mein Bestimmungsbuch zu schwer ist für einen Spaziergang. Stattdessen nehme ich Blätter und Blüten mit nach Hause, um zu erfahren ob es sich um Zaunwinde, Schwarzdorn, Zitronenquitten, Fenchel oder wilden Möhren handelt. Meistens esse ich sogar ein winziges Stück davon, um zu prüfen, ob sie genießbar ist. Meine Liebste hält mich für verrückt in diesen Belangen. Aber alles was geschaffen wurde, besitzt eine Geschichte, die man nur erfahren kann, wenn man es in sich aufnimmt. Außerdem gibt es nur sehr wenige wirklich giftige Pflanzen.
Vielleicht hängt es damit zusammen wie ich aufgewachsen bin. Als ich ein Kind war, waren wir nach heutigen Maßstäben arm. Meine Eltern hatte eine Schäferei und mein Vater arbeitete als Hilfsarbeiter. Später hat sich vieles geändert. Mein Vater brachte es bis zum Techniker und wir rückten in die Mittelklasse auf. Aber in diesen frühen Jahren war ich sehr viel allein. Meine Eltern und meine Brüder arbeiteten am Haus oder auf dem Hof und ich war immer zu jung und zu schwach, um von irgendeinem Nutzen zu sein. Ich weiß nicht genau, ob es an der Einsamkeit lag. Aber ich begann die Welt um mich herum zu betrachten als wäre ich ein Fremder darin.
Einmal fand ich bei meinen Streifzügen durch unter Haus eine Schachtel mit alten Photos. Sie zeigten meinen Großvater. Er war Fernfahrer und saß auf seinem Lastwagen. Das kleine Mädchen neben ihm war meine Mutter. Sie trug eine lächerlich große Schleife und wirkte noch ärmlicher und verzweifelter als in meinen Kindertagen. Die Aufnahmen waren während des Krieges entstanden. Weshalb mich diese Bilder so beeindruckten, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie führten mir etwas vor Augen, was für einen Erwachsenen so selbstverständlich ist, dass man es kaum ausdrücken kann. Ich verstand plötzlich, dass es vor mir auch schon Menschen gegeben hatte. Das fand ich damals keineswegs selbstverständlich. Jedenfalls hatte ich vorher darüber noch niemals nachgedacht.
In dieser Zeit begann ich meine ersten Gedanken zu entwickeln. Manche von davon verfolgen mich noch heute. Oft saß ich stundenlang an einem Fleck und dachte nach. Ich versuchte alles was ich beobachtete mit meinem Verstand zu begreifen. Meine Mutter versuchte mich immer dazu zu bewegen, dass Haus zu verlassen. Sie hielt Sonne und Luft für die wichtigsten Voraussetzungen für eine gute Erziehung. Aber es gelang ihr selten. Noch heute sitze ich am liebsten bei strahlendem Sonnenschein an meinem Schreibtisch und arbeite.
Der erste Gedanke, an den ich mich erinnern kann, war eine Frage. Ich frage mich, warum ich gerade in diesen Körper und in dieses Leben hinein geboren worden war. Ich fürchtete mich davor zu erwachen und fest zu stellen, dass ich als (wirklich) armes Kind in einem anderen Land oder ein anderen Zeit lebte. So wie meine Mutter, die mit einer lächerlichen Schleife den ganzen Krieg überstehen musste. Diese Angst in Wirklichkeit ein Anderer zu sein, verfolgte mich über viele Jahre hinweg.
Deshalb habe ich mir die Dinge, die mich umgaben sehr genau eingeprägt, so als wären sie neu und vollkommen unbekannt. Sollte ich in einer anderen, schrecklichen Welt erwachen, würde ich mich wenigstens daran erinnern können. Natürlich stellte ich dabei fest, dass ich die meisten Dinge tatsächlich kaum kannte. Bisher hatte ich nur ihre Oberfläche wahrgenommen. Aber mir waren die Dellen, die Kratzer und die Flecken entgangen. Ich hatte die Lebensspuren übersehen. Allmählich begriff ich, dass jedes Ding eine Vergangenheit hatte, wie ein Mensch oder eine Familie. Eine Geschichte. Ich verbrachte Stunden damit die belanglosesten Sachen anzustarren. Die handbetriebene Kaffeemühle (alle anderen im Dorf hatten eine Elektrische); die Schafställe, Schermaschinen, Traktoren, Zäune und Schlachtvorrichtungen; das Porzellan mit chinesischen Motiven, den Duschvorhand, die Handwaschpaste und das ewig blitzsaubere Fahrrad meines Bruder. Kurz darauf brachte meine Mutter mich zu einem Psychologen.
Seit dieser Zeit bin ich fasziniert von dem Gedanken, dass man mit jedem Gegenstand eine Geschichte erzählen kann, die sich über viele hundert Jahre erstreckt. Ich könnte von seiner Erfindung berichten oder von seiner Herstellung oder ich könnte davon erzählen, wie die Vorbesitzer zu ihm kamen und was sie veranlasste ihn aus der Hand zu geben. Aber ich könnte auch erklären welche Bedeutung er in meinem Leben hat. Das allein würde genügen, um einen Roman zu füllen. Deshalb will ich versuchen mich kürzer zu fassen, denn in den nächsten Abschnitten möchte ich jeweils eines der sieben Dinge meines Lebens vorstellen und ich habe nicht vor einen Roman daraus zu machen.
Teil 1: Die Entdeckung des Achaar
Ich schreibe grad an einem Beitrag, der an Deinen angrenzt. "Alles was geschaffen wurde, besitzt eine Geschichte..." - genau davon handelt mein Beitrag.
Wenn ich einen Gegenstand sehe, sehe ich nicht wie die anderen nur den Gegenstand, sondern sinniere sofort über die Geschichte dieses Gegenstandes. So ist ein kleiner Stein, den ich im Garten finde, ja uralt. Manchmal so uralt, wie die Erde an sich. Er war mal Teil einer unvorstellbar riesigen Masse. Mit den Jahrmillionen hat ihn die Bewegung der Welt kleiner gemacht. Gesprengt. Zerrissen. Vielleicht sogar wieder geschmolzen.
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