Berlin Hugenottenfriedhof (01.04.2005)
Mitten in der fremden Stadt finde ich plötzlich etwas Vertrautes. Als ich fast noch ein Kind war und die Welt noch ummauert und in Ordnung war, besang Wolf Biermann den Friedhof der Hugenotten an der Friedrichstrasse. Die Schallplatte war bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen, aber jetzt stand ich unvermittelt vor den Toren des besungenen Friedhofes und es war wie eine Erinnerung an etwas, das ich niemals erlebt hatte. Dort lagen die französischen Immigranten aus den letzten Jahrhunderten mit ihren klangvollen Namen und die Künstler aus der kurzen Zeit des deutschen Sozialismus, die schon fast in Vergessenheit geraten sind. Im Schatten der Maulbeerbäume ruhten Brecht und Becher, Anna Segers, Heinrich Mann und mancher Andere, deren Werke ich niemals gelesen hatte. Ihr Gräber waren verfallen wie ihre Körper und nur manchmal lagen Steine auf dem Grab oder Blumen als Zeichen des Gedenkens. Aber inmitten der Vergänglichkeit verlor ich plötzlich jede Angst vor dem Tod und die Aussicht vielleicht eines Tages in diesem schönen Stück Erde zu liegen und nicht allein zu vermodern, schien mir geradezu tröstlich. In diesem Augenblick verstand ich, dass meine Angst vor dem Tod, die ich fast täglich mit mir herum trug, nur die Furcht vor der letzten unauslöschlichen Einsamkeit war.
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